Artist-in-Residence: Interview mit Bassem Saad

Interview
30.12.2020

Artist-in-Residence: Interview mit Bassem Saad

 

Bassem Saad ist Künstler, Schriftsteller und Architekt, geboren an einem 11. September. Seine Arbeiten erforschen Objekte und Vorgänge, die Gewalt und Lust, Fürsorge und Abfall thematisieren. In Form von Videoarbeiten, Skulpturen oder Texten untersucht er Strategien, um sich innerhalb und jenseits von Regierungssystemen zu bewegen. Derzeit ist Saad Teil des transmediale Artist-in-Residence-Programms und arbeitet im Rahmen der Residency an seinem neuen Projekt Congress of Idling Persons. Die Film-Arbeit zeigt fünf Darstellende als Gesprächspartner, die sich selbst vor dem Hintergrund transhistorischer Narrationen spielen. In Anknüpfung an jüngste weltpolitische Ereignisse zielt der Film darauf ab, eine Kartografie des Protests, der Krise, der humanitären und gegenseitigen Hilfe, der Arbeitsmigration und des palästinensischen Außenseiterstatus zu entwerfen. Congress of Idling Persons wurde im Auftrag der transmediale und mit Unterstützung der Martin Roth-Initiative produziert und wird erstmals in der Ausstellung der transmediale 2021–22 zu sehen sein.

 

TM: Congress of Idling Persons arbeitet sowohl mit dokumentarischen als auch mit fiktiven Elementen und setzt sich mit den Nachwirkungen einiger der eindringlichsten sozio-politischen Unruhen der letzten Jahre auseinander, darunter der jüngste Arabische Frühling, die Black Lives Matter-Proteste während der COVID-19-Pandemie und die Explosion im Beiruter Hafen. Kannst du uns sagen, wie du diese politischen Bewegungen und Ereignisse miteinander verbindest und welche Bedeutung sie als Ausgangspunkt für deinen Film hatten?

BS: Alle zeithistorischen Ereignisse im Film sind aufgrund der Tatsache präsent, dass ich sie aus erster Hand erlebt habe. Mein Ansatz sich jedem dieser Ereignisse zu widmen ist ein tagebuchartiger, nahezu auto-ethnografischer. Einige Diskurse wiederholen sich über verschiedene Ereignisse hinweg; sie werden zu Leitmotiven, wie beispielweise die Figur des Agitators von außen. Aber im Allgemeinen ist es nicht mein Ziel, große Schlussfolgerungen über eventuelle Gemeinsamkeiten zu ziehen.

TM: Kannst du uns etwas mehr über die Mitwirkenden im Film erzählen, d.h. welche Rolle(n) spielen sie und in welchem Verhältnis stehen sie zu den übergreifenden Narrationen im Film?

BS: Alle Darstellenden im Film sind in Beirut ansässige Personen, die ich aus Kontexten der politischen Arbeit kenne und die mich schon lange begleiten. Sandy Chamoun und Rayyan Abdel Khalek sind Musiker*innen und wir haben gemeinsam am Oktoberaufstand teilgenommen. Seitdem haben wir unzählige Tage in Quarantäne verbracht und uns an jeden Aspekt dieser Zeit, diesem historischen Wendepunkt, erinnert und ihn seziert: die sozialen Akteure und Identitätsgruppen, die polizeiliche Repression und Kontrolle der Menge sowie Besetzung und neuartige Nutzung des öffentlichen Raums, die Vermittlung durch die offiziellen Kanäle und sozialen Medien, die konkurrierenden Rhetoriken und der informelle Austausch. Es machte Sinn, Sandy und Rayyan in einer lockeren huis clos-Situation der Auseinandersetzung hinter geschlossenen Türen zu filmen, nachdem sich der Tumult etwas gelegt hatte und sie von Stille umgeben waren. Islam Khatib ist eine palästinensische Schriftstellerin, die im Film (scheinbar) an ihrem Schreibtisch sitzt, während sie interviewt wird, nicht unähnlich den Interviews, die historisch mit den Schriftsteller*innen der revolutionären Bewegung durchgeführt wurden. Mekdes Yilma ist eine der Mitbegründerinnen von Egna Legna, einem von feministischen Arbeitsmigrant*innen geführten Kollektiv, zu dessen jüngsten Aktivitäten die Bildung eines robusten Netzwerks gegenseitiger Hilfe in und um Beirut gehört.

Diese Akteure zusammenzubringen war mit der Absicht verbunden, einen Chor von erzählten Gegen-Geschichten zu bilden – auch wenn dies vielleicht zu einfach ausgedrückt ist. Der Film ist nicht allzu weit entfernt vom Format einer Anti-Doku des Protests. Die Darstellenden verfolgen keine Parteilinie; sie sind in ihrem Handeln manchmal so unberechenbar wie die Aufständischen einer Revolte.

 

TM: Was verstehst du unter kollaborativem Arbeiten und wie hat dieser kollektive Arbeitsprozess die Entwicklung des Filmprojekts beeinflusst?

BS: Für mich war von Anfang an klar, dass meine Priorität bei der Budgetvergabe in der fairen Bezahlung der Darstellenden liegt, da ich sie letztlich alle als meine Gesprächspartner verstehe, mit deren Hilfe ich erst den Diskurs dieser Arbeit entwickeln konnte. Vor den Dreharbeiten hatte ich mit allen einzeln mehrere Sitzungen zur Drehbuchentwicklung. Einige fühlten sich wohler dabei, ihre eigenen Rollen zu schreiben, andere entschieden sich fürs Improvisieren vor der Kamera. Die Arbeit ist also eine Art kuratiertes Video-Essay; ich musste jedoch – und das war wohl genau das richtige – die Kontrolle in gewissem Sinne abgeben.

TM: Wie beeinflusst Science-Fiction dein Arbeiten? Und welche sozio-politische Handlungskraft schreibst du Fiktionen zu?

BS: Mich interessiert grundlegend ein breiteres Verständnis von Science-Fiction, sowohl innerhalb als auch außerhalb von Genregrenzen. Ich will damit sagen, dass ich genauso an Wissenschafts- und Klimafiktionen interessiert bin, die keine alternierenden Raum-Zeit-Verhältnisse oder neuartige technologische Erfindungen oder intelligente nicht-menschliche Lebensformen zum Gegenstand haben. In manchen geografischen Kontexten, wie etwa einem Slum oder einem Flüchtlingslager, gibt es kein sichtbares Pflanzenleben und keine fortschrittliche algorithmische Steuerung; stattdessen sind diese Orte überschwemmt vom brachialen Gurgeln organisierter Verlassenheit, von Tränengas bis zu Giftstoffen im Wasser und freiliegenden elektrischen Schaltkreisen. Politisches Handeln außerhalb von nicht-fiktionalen Kontexten zu denken ist meines Erachtens nach bereits Science-Fiction, denn die Technik und Infrastruktur von Regierungssystemen ist omnipräsent. In diesem Sinne schaffe ich mit Congress of Idling Persons nicht absichtlich ein Science-Fiction-Werk, aber natürlich könnte es als solches interpretiert werden.

TM: In deinen Projekten beschäftigst du dich häufig mit Widerstandsfähigkeit und den Bedingungen von Arbeit. Congress of Idling Persons thematisiert die Problematik, dass migrantische Hausangestellte vom libanesischen Arbeitsrecht ausgeschlossen sind und stattdessen durch das Kafala-System geregelt werden, das den legalen Aufenthalt der Arbeiter*innen an den Vertrag mit dem Arbeitgeber bindet. Kannst du uns etwas über dieses System und die Kampagne für seine Abschaffung erzählen?

BS: Das Kafala-System (Bürgschaftssystem) lässt sich bis in die 80er oder 90er Jahre zurückverfolgen, etwa bis zum Ende der libanesischen Bürgerkriege. Seitdem und bis zum wirtschaftlichen Zusammenbruch im vergangenen Jahr, konnten es sich selbst Haushalte der unteren Mittelschicht leisten, eine*n Hausangestellte*n zu beschäftigen, aufgrund der niedrigen Löhne und des Währungsunterschieds zwischen dem Libanon und den Heimatländern der Arbeiter*innen – vor allem Äthiopien, Philippinen, Kenia, Bangladesch und Nepal. Das System bindet die Legalität des Aufenthalts der Arbeiter*innen im Land an ihren Arbeitgeber, der ihren Pass konfiszieren, sie einsperren und letztlich auch misshandeln kann. Das Kafala-System ist die augenscheinlichste lokale Manifestation der Überschneidung von rassistischem Kapitalismus und Reproduktionsarbeit.

Es gibt eine lange Geschichte des Aktivismus gegen das Kafala-System sowohl von arbeitsmigrantischer Seite als auch von libanesischen Bürger*innen. Am prominentesten ist die Anti-Rassismus-Bewegung, die das Migrant Community Center betreibt und seit mehr als zehn Jahren aktiv ist. Nicht-libanesische Staatsbürger*innen dürfen keine Arbeitergewerkschaft gründen, was die Verhandlungsmacht und die politische Handlungsfähigkeit von Wanderarbeiter*innen in ihrem Kampf gegen das System stark einschränkt. Die Gründung einer Gewerkschaft der Hausangestellten im Libanon wurde beispielsweise vom Arbeitsministerium nicht genehmigt. Nachdem es im Zuge des wirtschaftlichen Zusammenbruchs in diesem Jahr zu Massenentlassungen von Hausangestellten gekommen war, traten Egna Legna mit ihren Aktivitäten stärker an die Öffentlichkeit und gewannen so an Bekanntheit. Sie bezeichnen sich selbst als feministisches Kollektiv und sind ironischerweise als Nichtregierungsorganisation in Kanada registriert, weil es auch für sie illegal ist, sich als libanesische NGO zu registrieren.

TM: Jackie Wang hat oft kritisiert, dass das Zusammenwirken von politischen und antisozialen Tendenzen im Kontext von Unruhen und Revolten weder anerkannt noch begrüßt wird. Krawallmacher*innen werden dementsprechend nicht als ernsthafte Opfer oder legitime politische Akteure gesehen, und daher werden auch ihre Anliegen nicht ernst genommen. Inwiefern beschäftigst du dich in deiner Arbeit mit der Spannung zwischen Revolten und gesellschaftspolitischen Forderungen, und wie siehst du das im Kontext des Libanon?

BS: Wang hat in der Tat ausführlich darüber geschrieben, wie Anti-Polizei-Aufstände in Schwarzen Gemeinden in den USA und in Großbritannien von weißen Linken oft entweder abgetan oder falsch interpretiert werden. Entweder werden Krawalle lediglich als verwirrte Ausbrüche charakterisiert, von ihren antisozialen Akteuren exkulpiert oder als kohärent und dementsprechend vernünftig dargestellt – alles im Namen der Beteuerung ihrer Unschuld. Dies reiht sich ein in eine jahrhundertelange Tradition weißer Linker, die einen Keil des "falschen Bewusstseins" zwischen Proletariat und Lumpenproletariat treiben – was sich manchmal auf die rassifizierte Überschussbevölkerung bezieht –, die bis zu Marx selbst zurückreicht. Ich interessiere mich für die neu aufkommende Wissenschaft zu aktuellen Unruhen, weil wir nun, in diesen Zeiten der Masseninhaftierung, Deindustrialisierung und raubtierhaften Polizeiarbeit im Westen, auch beginnen diese Form der politischen Versammlung zu nutzen. Joshua Clovers Arbeit verortet die aktuellen Ausschreitungen rassifizierter Bevölkerungsgruppen im Westen in einem historischen Kontinuum und als Bumerang von Aufruhr, Streik und Aufruhr, nachdem die Arbeiterbewegung und die Fähigkeit der Arbeiter*innen zu streiken, seit den 80er Jahren abgenommen haben.

In der arabischen Welt hat sich der Aufruhr seit Beginn des Arabischen Frühlings zum Paradigma für das Funken-Ereignis entwickelt, das einen Aufstand entfacht. Ich schreibe dies in der Woche, in der sich der Beginn des Arabischen Frühlings, als sich der tunesische Straßenverkäufer Mohamed Bouazizi selbst verbrannte und damit die Schleusen öffnete, zum zehnten Mal jährt – manchmal kommen mir immer noch die Tränen, wenn ich ein Foto von Bouazizi sehe. Der iranische Wissenschaftler Asef Bayat hat über die Subjektivität der "urbanen Subalternen" in arabischen Städten und anderswo geschrieben: Einheimische und Migrant*innen, die wie Bouazizi auf informelle Arbeit angewiesen sind, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, und die größtenteils unterbeschäftigt oder arbeitslos sind. Diese Menschen können nicht streiken oder verhandeln, indem sie ihre Arbeitskraft verweigern. Bayat bezeichnet die Unruhen und Mobilisierungen dieser Bevölkerungsgruppen als "Nicht-Bewegungen"; das ist nicht gerade die treffendste Formulierung, leider.

Der Oktoberaufstand im Libanon begann ähnlich: Am 17. Oktober 2019 strömte eine Gruppe junger Menschen aus den südlichen Vororten Beiruts spontan in die Innenstadt und setzte diese in Brand, weil zuvor eine Steuer auf den Messengerdienst WhatsApp ausgerufen worden war. Später tauchten verschiedene Interessengruppen und politische Blöcke auf und begannen, sozioökonomische Forderungen zu artikulieren, die das Spektrum von ultralinks bis hin zu völliger Komplizenschaft mit dem hegemonialen sektiererisch-klientelistischen System abdeckten. Und doch ist die anfänglich randalierende Gruppe nicht leicht aufzuspüren, vorherzusehen oder gar nachvollziehbar zu machen.

TM: Seit 2015 gab es im Libanon immer wieder Proteste und Unruhen zwischen verschiedenen Gruppierungen gegen den Staat. Das Bewusstsein der gemeinsamen Unterdrückungserfahrungen hat bei vielen dieser Gruppen zu Solidaritätsaktionen geführt. Wie thematisierst du das im Film?

BS: Wie jeder Volksaufstand brachte auch der Oktoberaufstand eine Vielzahl unterschiedlicher Identitäten und Interessengruppen zusammen, die sich zwar solidarisch zeigten, aber auch weitgehend antagonistisch waren und sich gegenseitig bekämpften. Im Film spricht Islam Kathib brillant über die Äquivalenzen zwischen der Bereitstellung von Hilfe und der Ausweitung von Solidarität, beides Gesten, die mit erzwungener Abgrenzung, falscher Gleichwertigkeit und der Replikation von Hierarchie behaftet sind. Sie zieht eine provokante Analogie zwischen der Ausweitung der Solidarität und der Bereitstellung von humanitärer Hilfe und spricht auch über deren Grenzen.

TM: In Congress of Indling Persons rückst du historische und gegenwärtige Momente in den Fokus, in denen verschiedene gesellschaftliche Gruppen democratic biopolitics konzeptualisiert und praktiziert haben. Die Idee von Biopolitik steht in engem Zusammenhang mit Themen wie Gesundheitswesen, Politik, Rassismus und soziale Gegensätze. Was sind deiner Meinung nach Möglichkeiten einer sogenannten demokratischen Biopolitik und wie könnte diese als Teil radikaler Strategien der Verweigerung und des Protests auftauchen?

BS: Die oben beschriebenen Gruppierungen von rassifizierten Bevölkerungen in de-industrialisierten Städten und Metropolen im Westen bis hin zu städtischen Subalternen im Globalen Süden haben oft keine "Arbeitsplatzforderungen", sondern Probleme, die in direktem Zusammenhang mit Leben und Tod stehen, weil sie immer entweder mit hinfälligen Infrastrukturen und totaler Verlassenheit oder polizeilicher Repression konfrontiert sind. Womöglich dehne ich den Begriff democratic biopolitics zu sehr, aber worauf ich mich beziehe, sind Organisationsformen, die sich direkt mit dem Wohlergehen des Subjekts außerhalb des Arbeitsplatzes befassen. Im Film beispielsweise spricht Mekdes Yilma darüber, wie Egna Legna versuchen, durch ihre Verteilung von Hilfsgütern irgendeine Form des politischen Diskurses oder Aufrufs zum Handeln zu verbreiten.

TM: Du sprichst häufig davon, wie neoliberale Regierungspolitik und rassistischer Kapitalismus darauf abzielen, den politischen Willen und die Ambitionen für alles, was über die bloße physische Sicherheit und die Erfüllung der Grundbedürfnisse hinausgeht, zu ersticken. Dennoch scheinen deine Arbeiten auch auf einem Gefühl der Hoffnung zu beruhen, insbesondere in zwischenmenschlichen Beziehungen. Kannst du uns etwas über die Zusammenhänge von Hoffnung und Verweigerung erzählen?

BS: Eine reine Politik der Verweigerung ist, wie auch Jackie Wang richtig anführt, letztlich nicht durchführbar. Die Abschaffung bestimmter Institutionen – der Polizei, des Gefängnisses, des Kafala-Systems – ist totale Verweigerung, aber sie bedeutet deshalb nicht "für nichts und gegen alles". Es gibt Netzwerke, die in Zeiten relativer Stille auf lange Sicht hin aufgebaut werden. Hoffnung ist ein verräterischer Affekt, der leicht in die Rhetorik der neoliberalen Entwicklung nach dieser oder jener Krise übernommen werden kann. Das ist ein Disclaimer, aber es ist kein Aufruf, die Überschwänglichkeit des Affekts und der Sehnsucht in Momenten revolutionären Eifers abzulehnen. Aber wir brauchen unsere Puffer gegen Desillusionierung, und ich denke, wir können diese Puffer nur in Beziehungen und in Gemeinschaft finden, die in diesen anderen Momenten aufrechterhalten werden, wenn sich die Welt zufällig nicht in Revolte erhebt.

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