Code des Bewußtseins

Code des Bewußtseins

Date: 
24.05.1997 16:00
Edition: 
1997
Format: 
Panel
Location: 
Podewil

Die Frage, wie das Gehirn funktioniert, gilt als eines der letzten großen wissen­ schaftlichen Rätsel, dessen Lösung
auch eine Basis für eine (technologisch bedingte) Verständigung im Verhältnis von Mensch und Maschine bilden kann. Das Gehirn ist eine der komple­
xesten Strukturen des bekannten Uni­
versums. Daß der Mensch sein Gehirn
als Raum für Forschung und Eingriffe
öffnet, ist in vielfacher Hinsicht eine
große Aufgabe. In den westlichen
Industrieländern laufen breit angelegte
Projekte, die das menschliche Gehirn zu
einem Hauptarbeitsgebiet machen - ei­ne Forschung, die zunehmend erfolgrei­ cher ist. Dabei geraten kulturelle Fra­ gen In den Blick.
Es entstehen verschiedene Formen der Neurotechnologie, mit denen man im­ mer differenzierter in die Materie des Gehirns eingreifen kann. Dazu gehört zum einen die Psychopharmakologie, die mit biochemischen Mitteln Effekte der Wahrnehmung auslöst und Gehirn- Substanzen der Informationsverarbei­ tung beeinflußt. Zum anderen werden seit fast einem Jahrzehnt Hirngewebe- Transplantationen vorgenommen. Ein neuer Bereich ist die Neuroprothetik, die technische Unterstützung von Kör­ per- und Bewußtseinsfunktionen, die sich immer näher an das „Zentrum" herantastet. Nach Einführung von Ohr- Implantaten, die Probleme des Hörens ausgleichen und den Hörnerv neu stimulieren, wird an speziellen Chips gearbeitet, die Blinden neue Möglich­ keiten bieten, indem visuelle Informa­ tionen erfaßt, digitalisiert und an das Gehirn weitergeleitet werden. Als Folge der medizinischen Forschung
und Praxis wird das Innere des Bewußt­seins sichtbar und - unter Umständen -weitgehend manipulierbar.Würden diese Visionen realisiert, wären die Konsequenzen im kulturellen Diskurs unübersehbar. Das menschliche Subjekt verliert eine selbstverständliche Be­ zugsmöglichkeit. Es gibt Denkfunktio­ nen („sich etwas bewußt machen"), die eine Innenschau ermöglichen. Mit dem Begriff Bewußtsein werden indivi­ duell erlebbare Zustände beschrieben, die unterschiedlich im Gehirn bestimm­ bar, lokaliserbar sind. Was wäre unter den Bedingungen von neuen, technisch gestützten Denkfunktionen noch ein Subjekt? Wo endet das Ich, wo beginnt das zusätzliche „Denken" des Compu­ ters? Gibt es einen Verlust der Wahrnehmung von Körperlichkeit? Die materielle Komplexität des Gehirns bleibt eine natürliche Barriere für allzu optimistische (und dabei technizisti- sche) Phantasien. Aber auch kritische Wissenschaftler stimmen zu, daß es ei­ ne Synergie zwischen Neurobiologie und Computerwissenschaften geben wird. Das Gehirn wird diskursiv akzep­ tiert werden als Organ, das medizini­ schen Eingriffs- und Zugriffsmöglichkei­ ten unterliegen kann. Solange der „Code des Bewußtseins" fehlt, kann aber keine Verbindung mit einem Chip hergestellt werden. Zudem fällt die Vor­ stellung schwer, daß Individuen nur „Einheiten" sein sollen, die man ein­ fach technisch aufrüstet, um sie wahr­ nehmungsfähiger zu machen. Das Be­ wußtsein ist ein vielfach vermitteltes natur- und kulturhistorisches Produkt, das auch „virtuell" durch Sprache, Me­ dien vernetzt ist. Ein Neurochip jedoch wäre - egal, ob man es positiv oder ne­ gativ werten will - ein anderer qualita­ tiver Sprung in der Entwicklung, die vom heutigen Standpunkt nur ungenau umrissen werden kann und - als Teil einer Cyborgisierung des Körpers - von anderen kulturellen Prozessen einge­ rahmt werden wird.
Doch schon heute ist die Frage akut, in­ wieweit Kulturphänomene als „Hirn­phänomene" interpretierbar werden. Inwieweit wird der Vorgang des Ent- deckens neuer Hirnprozeduren daran teilhaben, daß das Individuum ein neu­ es Projekt des „Sich-selbst-Entwer- fens" in Gang setzt? Prof Dr. Detlef B. Linke meint, daß mit Computer-Tomo­ grammen eine neue Stufe der Erkennt­ nisfähigkeit, der Selbstbetrachtung er­ reicht ist. Die „Anschauungskapazitä­ ten" des Menschen können selbst an­ schaulich werden. Daran schließt ein heute relevantes Verständnis von Neu- roästhetik an. Wie sehen die neuen mentalen Verarbeitungstrukturen aus und welche lassen sich absehen? In­ wieweit ist es möglich, sie im Gehirn zu lokalisieren? Lassen sich solche Um­ strukturierungen bestimmten Medien zuschreiben? Ausgangspunkt der Neu- roästhetik ist die Frage, welche ästheti­ schen Begleiterscheinungen sich be­ schreiben lassen, wenn „das Gehirn nach der Herrschaft über das Gehirn greift". Welche neuen Sinneswahrneh­ mungen es durch neurotechnologische Implantate gibt, ist dabei eine Spekula­ tion. Vorläufig beschäftigt sich die Neu- roästhetik mit Fragen der Wahrneh­ mungsphysiologie und -psychologie, wie sie durch die Mediengeschichte evoziert werden. Ein neuer ästhetischer Raum entsteht am Kreuzungspunkt von Neurowissenschaften und Computer­ technik, mit Denk- und Erfahrungsmit­ teln für zukünftige Dimensionen von Kunst und Wissenschaft, mit vielfälti­ gen Auswirkungen auf Subjektivität und kulturelle Identität.Wolfgang Neuhaus. Prof. Dr. Detlef B. Linke meint, daß das Gehirn sich kulturell in seiner Organisa­ tion der „Informationsverarbeitung" geändert hat. Mit Computer-Tomo­ grammen werde heute eine neue Stufe der Erkenntnisfähigkeit, der Selbstbe­ trachtung erreicht, die „Anschauungs­ kapazitäten" des Menschen können selbst anschaulich werden.
Dabei werden in dem Maße kognitive Räume eröffnet, in dem geklärt wird, wie das Selbst die Umwelt im Bewußt­ sein konstruiert und abbildet. Zugleich entsteht in der Perspektive eine neue Freiheit, die das Gehirn selbst und den menschlichen Organismus als „etwas dem freien Entwurf Zugängliches" kon­ zipiert. Eine der Zeit angemessene Ethik müsse dies berücksichtigen, ohne von vornherein Möglichkeiten einzu­ schränken.Von einem künstlerischen Standpunkt versucht Prof. Dr. Horst Prehn, sich der
„Neuro-Semiotik" des Gehirns zu
nähern. Bisher gebe es nur einfache
Modelle vom Gehirn. Um die „neuroelektrische Schnittstelle" zu verwirkli­
chen, ist neben einem detaillierten Ver­ständnis der Gehirnprozesse die Nach­ ahmung der mentalen Codes notwen­ dig. Auch fragt er, ob eine „direkte Kommunikation" mit dem Körper über­ haupt möglich ist. In seinen Installatio­nen will er durch „Auto-Interpretation selbsterzeugter Darstellungen" auf in­ tuitive Weise erkennen, was diese Codes bedeuten.

share