Die Beseitigung des Tanzvideos. Von Norbert Corsino

03.03.2017

Die Beseitigung des Tanzvideos. Von Norbert Corsino

Zwei Worte reichen, um einen hübschen Sack zu gestalten, auf dem "Tanzvideo" steht. Man kann jetzt seine Hand hineinstecken und ein komplettes Sortiment an Dokumentarvideos, Aufführungsmitschnitten und speziellen AV-Kreationen herausholen, die alle gemeinsam haben, daß es um Tanz geht, einfach weil man in der Tat Tänzer sieht. Anhand des Bildträgers wird nicht differenziert, man kann aber seit dem Ende der achtziger Jahre eine klare Tendenz der Rückkehr zum Film feststellen, wenigstens was die AV-Kreationen betrifft.

Um eine Geschichte des Tanzvideos zu entwerfen, die über eine bloße Bestandsaufnahme hinausgeht, muß man zum einen den räumlichen Maßstab festlegen und zum anderen unterstellen, daß der Autor enzyklopädische Kenntnisse hat, was ich, unter uns gesagt, nicht glaube. Ist das, was ich von Nahem oder Weitem betrachte, noch Tanz, erkenne ich es von Nahem oder von Weitem als Video? Wenn ich keine elementare Entfernung abstecken kann, ist mein Raum nicht mehr meßbar, und ich muß die qualitative Untersuchung des Systems "Tanzvideo" ins Auge fassen. Komme ich besser damit zurecht, wenn ich mir ein System aus Referenzpunkten aufbaue? Sind Referenzen Grundlage des Konformismus? Oder das Gegenteil davon? Auf jeden Fall schränken Referenzen als System ein und wirken als geschlossener Kreislauf.

Um meinen Standpunkt richtig einordnen zu können, muß man wissen, daß ich Tänzer, Choreograph und Regisseur bin. 1986 habe ich mich gemeinsam mit Nicole Corsino entschieden, andere Räume für Tanzaufführungen zu finden, indem wir "choreographische Fiktionen" entwickeln, in denen Video als Schreibmaterie und Schreibfläche dient. Ich bin weder Historiker noch Tanz- noch Videokritiker und verweise für eine umfassende historische Analyse des Themas auf bereits erschiene Texte von Leuten wie Laurence Louppe.

Ich schlage also vor, das Problem von einem örtlich begrenzten historischen Punkt aus anzugehen, ihn um eine morphologische Herangehensweise zu erweitern, und sodann zu Hypothesen über die Konsistenz zu kommen, die der gemeinsamen Existenz und Entwicklung von Tanz und Video - diesen Werkzeugen der Exaltation - eigen sind.
Zeitgleich am Ende des neunzehnten Jahrhunderts liegen die Anfänge des modernen Tanzes, seiner Befreiung vom akademischen Kanon und der Zwangsjacke sozial-korporativer Zwänge, und die Geburt der Kinematographie, deren Entwicklung zunächst auf Studien körperlicher Bewegungsabläufe (bei Mensch und Tier) basierte, schnell jedoch ein mächtiges Werkzeug künstlerischen Ausdrucks wurde. Ohne ins Detail zu gehen, kann man feststellen, daß der Zeitpunkt nicht zufällig war, und beide Sparten sehr schnell zu Verbündeten wurden. Mit dem Aufkommen von Video Jahrzehnte später hatten Tänzer, Choreographen, Tanzpädagogen und ganz all-gemein alle Menschen, die ihren Körper in Bezug zu Zeitabläufen setzen, ein Mittel gefunden, sich unmittelbar zu betrachten und zu untersuchen.

Die Ausgangsideen

- Studium der Körperbewegungen durch das Bild (für das Kino)
- sofort (und alles) sehen zu können (für Video)

machen die Bildträger zu sich ergänzenden technischen Mitteln ohne daraus abzuleitende Rangfolge (höchstens auf dem Zeitstrahl).

Die unmittelbare oder direkte Revision einer als vergänglich angesehenen Kunst ist verführerisch: Sie wird zu einem körperlichen Bedürfnis. So konnte man also im Frankreich der siebziger Jahre dem Beginn des sogenannten Tanzvideos beiwohnen. Es bestand hauptsächlich aus Aufzeichnungen von Kursen, Aufführungen und auch Wortsequenzen: Tanz war im Wesentlichen orale Tradition. Eigentlich legte man im wesentlichen Archive an. Sich sofort zu betrachten hat einen Nachteil: Den Mangel an Abstand dem Bild, den Bildern gegenüber. Und wenn man das Gedrehte körperhaft werden lassen will, muß man konstruieren, dekonstruieren, also schneiden. Schreiben. Graphieren. Video- graphieren. Man muß sich die Zeit nehmen, Video zu Videographie werden zu lassen. Im Frankreich der achtziger Jahre traten im Bereich Tanz Choreographen hervor, die eine neue Strömung bildeten und der Bühnendarstellung ihre neue Handschrift aufdrückten. Die isolierten Abenteuer einiger Videokünstler, die nach New Yorker Beispiel mit Choreographen arbeiteten, wurden institutionalisiert; 1984 ein Wettbewerb vom Kultusministerium ausgelobt, 1989 fand ein Wettbewerb mit Partnerschaft des Fernsehens statt, 1987 wurden zwei Festivals etabliert. Bestimmte Choreographen werden Regisseure arbeiten in erster Linie für das Kino, führen aber die Präsentation von Bühnenaufführungen fort: Das eigentliche Genre "Tanzvideo" präzisiert und lichtet sich in beiderlei Hinsicht mit Beginn der neunziger Jahre. Auf der einen Seite werden eigentliche Videoar-beiten seltener, andererseits tendieren die Choreographen eher zur großen Leinwand. Das Interesse konzentriert sich nach und nach auf die dokumentari-sche Seite, denn hier findet man ausführliche Informationen und einen exotischen Aspekt aus der Anfangszeit, der verlorengegangen war.

Es gibt mehrere Gründe für die zunehmende Seltenheit von Tanzschöpfungen als Video in diesem kurzen Zeitraum, und das trotz des Erfolgs mehrerer Werke und des Talents ihrer Autoren. Abgesehen von den Problemen des Kunstmarkts und der Fernsehsender, die ich hier nicht behandele, kann man zwei grundlegende Elemente festhalten: Eines beruht auf dem Versuch, in verkürzender Weise einem noch nicht existierenden Prozeß zwei Begriffe zuzuordnen, das andere tendiert dazu, ein der Geschwindigkeit verschrieben-es Genre nur über ästhetische Definitionen fassen zu wollen.

Es gibt etwas jenseits choreographischer und videographischer Ausdrucksweisen, die ihren inneren Funktionsmodellen folgen (etwa: Hier ist Tanz und das da ist Videokunst), etwas Universelleres für das menschliche Wesen, das uns durch die Jahrtausende begleitet und wie ein Kern der Konstruktion erscheint: Die Erzählung. Die Erzählung in folgendem Sinne: Im weitesten Sinne des Wortes. "Erzählen" heißt, um Carlo Ginzburg zu zitieren, hier und jetzt mit dem Gewicht dessen erzählen, was man dort in jenem Augenblick gesehen hat. Während der Fortschritte in der Realisierung choreographischer Fiktionen habe ich durch den Tanz, durch die Tatsache, in diesem beweglichen Raum zu leben und die Position meines Körpers zu verändern, bemerkt, daß ich mich an einem Verbindungspunkt von Zeit und Raum befinde, einem Punkt zwischen meinen Handlungen und den Wahrnehmungen einer imaginären Reise meiner Haut und meiner Knochen. Ich offenbare mir selbst und anderen an einem Ort eine zeit-räumliche Bewegung, die in der Überlagerung der zwei Zustände kondensiert, und befinde mich so in einem ele-mentaren narrativen Prozeß im obigen Sinne. Beim ersten Kontak mit der Videotranskription kann ich mich handeln sehen, vor allem jedoch die beiden Zustände differenzieren und die möglichen Wege von einem zum anderen nutzbar machen. Der Isomorphismus der Gefühle und Strukturen, welchen ich dann zwischen diesen zwei Arten herstelie, weckt in mir den Wunsch, die bewegten Materien Tanz und Video zu verbinden. Dazu kommt der Wille, den Tanz aus dem Bühnenraum hinauszutragen. Einzigartige Orte zu finden, bedeutet, auf der Landkarte zu reisen. Die erzählende Literatur ist oft mit Karten, Atlanten versehen. Die Kartographie der Orte nährt ein ambivalentes Verhältnis zur Choreographie und schafft einen Erzählraum, sie erlaubt es, zu verstehen, daß die lineare Erzählung in einem System permanenter räum-licher Beziehungen stattfindet. Um die Ande ren, das Publikum, diesen sichtbaren Raum, der eben keine Bühne-Zuschauerraum-Konfiguration darstellen soll, merken zu lassen, muß man Ihn mit dem Kamera- Werkzeug ins Bild setzen und eine duale Karte nachstellen, auf der die Abhängigkeiten von Zeichen und Ort auf zwei Ebenen stattfindet, denn sie erlaubt es, die Handlung zu verlassen oder in ihr zu verwei-len, Die tanzenden Figuren gehören zur Geschichte der Sequenz oder kündigen auf gewisse Art die folgende oder eine schon von ihnen durch-lebte an. So lassen sie dem Leser die Freiheit, die Elemente seiner eigenen Reise, seines eigenen Rätsels zusam- men-zusetzen. Die Erweiterung des choreographischen Feldes offenbart ihre zeitweilige Unsichtbarkeit. Die Schneise im Raum des Bildes verlängert das diskrete elektronische Universum auf eine makroskopische Ebene und setzt sich fort durch Differenzierung von anderen Elementen wie Orten, Kadrierungen, Verschachtelung der Sequenzen, Objekten oder Maschinen. Man betrachtet nicht mehr den Bildschirm. Man tritt durch hie und da gesäte Pfade ein. Der Körper ist mal zu ahnen, mal zu erhaschen, er übergibt die Stafette, entschwindet in der Spannung des Schnitts. Der Tanz ist allgegenwärtig, selbst wenn der Körper verschwindet, denn die geschriebene, gewählte, bestimmte Bewegung setzt sich unendlich vielfältig zusammen, je nach Änderung des Maß-stabs. Das Bild wird zum Raumbild, so wie man vom Raumklang spricht. Bis zum Verlust der Sinne. Welch Vergnügen, die Sinne zu verlieren und wiederzufinden, Diese drei Thesen definieren das Tanzvideo neu und reorien- tieren seine mögliche Dekon- struktion zu einem Substrat. De- konstruktion bedeutet Aufbau durch Beseitigung. Wenn die Beseitigung des Tanzvideos zum Verschwinden des Wortes führte, wäre es bereits ein Erfolg für die Richtung, die wir mit Tanz und Video" andeu-ten, es würde erlauben, die Irrtümer der Wertung besser zu messen, diese oftmaligen Quellen der schönsten Entdeckungen.

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