Die Elektronik nach J.-C Averty. Von Anne-Marie Duguet
Die Elektronik nach J.-C Averty. Von Anne-Marie Duguet
Wenn vom Fernsehen die Rede ist, wird die Frage der künst-leri- schen Qualität selten gestellt, geschweige denn ernsthaft behandelt, so als ob dies unschicklich wäre. In der Tat haben wenige Regisseure die elektronischen Ausdrucksmöglichkeiten systematisch erforscht. Für das französische Fernsehen gibt es jedoch eine bemerkenswerte Ausnahme: Das Werk Jean- Christophe Avertys widerlegt durch seine radikale Originalität all jene, die künstlerisches Schaffen nur in Opposition zum Fernsehen für möglich halten, als außerhalb des Systems stehendes "unabhängiges" Video. Mit seiner erstaunlichen Neugierde und seinem bereits sprichwörtlichen Nonkonformismus ist er Zauberer des Spezial
effekts, König des schwarzen Flumors, elektronischer Poet, Dauerskandal, ein Außenseiter im Inneren, der jedes Genre bearbeitet (Dramen, Variete, Jazz etc,), mit den ethischen und ästhetischen Grenzen des Fernsehens spielt und sie dabei sichtbar macht.
Kunst vom Fernsehen Dadaist, Surrealist, Intellektueller, Vertreter von Oulipo, Pataphysiker, Postmoderner: Das alles ist Averty, und zwar seit Ewigkeiten. In seinen Sendungen verwendet er ausgiebig Reproduktionen, Zitate, Aneignungen, Collagen, Tricks und intertextuelie Methoden. Er wagte als einziger elektronische Adaptionen unbekannter Texte von Malern wie dem Zöllner Rousseau oder Picasso oder von Werken Jarrys (Ubu Roi war 1965 ein Manifest elektronischen Ausdrucksstils), Raymond Roussels, Cocteaus oder Lautreamonts. Als Künstler bezeichnet er sich jedoch nicht, er nennt sich "Realisator", und seine unaufhörlichen Erfindungen sind Musterbeispiele des Widerspruchs, der Kunst vom Fernsehen. Averty nimmt das Fernsehen beim Wort. Er hält ihm das eigene Bild entgegen. Nicht durch simple Parodie oder durch Darstellung der Entstehung von Fernsehen, er eignet sich bewußt dessen Modelle radikal an und stellt so die Funktionsweise des Mediums dar. Ob es sich um Recycling von Bildern aller Art, um Collagen aus aneinandergereihten Programmen handelt, nur vom Zapper zu überbieten, oder ob es um diese außergewöhnliche Mischung von Inspirationen, Genres und verschiedensten Kunstrichtungen handelt und der dem Fernsehen eigene Eklektizismus nachgespielt wird Averty zeigt diese Operationen, bearbeitet sie innerhalb des Systems, das sie am massivsten produziert. In der Kontinuität des Stroms von Fernsehausstrahlungen ergreift er wieder Besitz von zahlreichen Bruchstücken, aber in einem Stil, mit einem Rythmus, welcher das Fernsehen selbst durch seine Geschwindigkeit erobert. Wir sind unbestreitbar mit einem Fernseh-Werk konfrontiert, auch weil es die typischen Eigenschaften des elektronischen Materials nutzt: Tricks, Bildschirmgröße etc. Sein extremes, entschlossen forschendes Bewußtsein von den Besonderheiten des Mediums, das er nie einfach dem Kino oder dem Theater zugeordnet hat, sondern eher als dem Radio nahe begreift, macht ihn zum Pionier des Fernsehens.
Eine andere Konzeption der Darstellung Angesichts dieses Werks, das verbindet, was nicht verbunden werden kann, in dem permanent die "Einheit der Gegensätze" produziert wird, wo das Wahre gleichzeitig falsch ist, wird man mit einer Reihe Paradoxa konfrontiert. Averty benutzt ein Reproduktionsmedium, aber um vollkommen konstruierte, künstliche Welten zu reproduzieren. Das Prinzip der Collage, die Basis seines Stils, besteht im Aus-ein- andertrennen, um zusammen-zu- fügen, im Fragmentieren, um dann zu vereinigen. Der Raum des Bildschirms ist gereinigt, von allem Anekdotischen, allen unnützen Details geleert, und aus anderer Quelle bis zur Sättigung gefüllt mit Anhäufungen von Bildern und sich wiederholenden Motiven, Wucherungen einiger Zeichen.
Der kleine Bildschirm Avertys ist ein feinmechanisches Präzisionsstück, das alle möglichen spezifischen Arten von Transformationen und Kollisionen hervorbringt, die nichts mehr mit dem üblichen Realismus des Fern-se- hens gemeinsam haben. Dessen "Standardbild" wird weg geblasen, es wird perma-nent herausgefordert. Seine Einheit wird aufgebrochen und als synthetische Einstellung re-konstru- iert. Auch die Konsistenz des Bildes kommt ins Spiel, wird durch die Leere oder ein Zuviel ergriffen, bis zum Exzeß getrieben oder vernichtet. Manchmal gleicht sie einer simplen (Stil)Figur, mag Motiv bleiben, zum Ornament Umschlägen. Auch sie wird nach vielfachen Manipulationen zum Objekt, zur Spielkarte. Averty arbeitet beim Fernsehen daran, dem Bild einen neuen Status zu verschaffen.
Als Zauberkünstler und Erbe Melies' produziert er Effekte um der Poesie willen, zum Spiel, aus Humor, um des Spaßes willen, teilweise wie Duchamp seine Übungen einer "physique amüsante" machte, nicht etwa um an die Existenz einer anderen Realität glauben zu machen. Seine Tricks wollen erkannt werden und geben sich als das aus, was sie sind: Maschinelle Machenschaften.
Layout und Synthese der Einstellung Bilder von Averty stellen sich als "Bilder" dar, deren Rahmen von weiteren Rahmen eingefaßt werden, als entschlossen zweidimensional. Der Bildschirm wird zur Seite, auf der jeder Tiefeneffekt neutralisiert Ist, Insbesondere durch das Spiel mit Einstanzungen, wobei Elemente als sich überlagernde Schichten auf einen perspektivlosen Hintergrund gelegt werden, sich überschneiden, ohne sich zu zerstören. Ohne Volumen oder ohne einfache Fläche zu sein, haben diese Bilder Dichte. Ihre Dimension Ist eine der elektronischen Vibrationen, das heißt der Zelt und der Geschwindigkeit. Averty nimmt den Rahmen des Bildschirms als Bezugspunkt, und plaziert wie ein Grafiker die verschiedensten Zeichen (Buchstaben, Herzen, Sterne, Tänzer, Fotos, Plakate etc.) und schafft so unmögliche Welten, In denen sich schwerelose Körper ohne definierte Dimension vervielfältigen, In alle Richtungen mit variabler Geschwindigkeit treiben und gleiten, und die Gesetze der euklidischen Physik überlisten. An den für jede Sendung auf kariertem Papier erstellten Schnittplänen kann man sehen, daß jeder Effekt minutiös berechnet, jede Einstellung sehr präzise konstruiert ist. Sämtliche Elemente, die ein Bild ergeben sollen, sind auf übereinandergelegten Pausen gezeichnet, fotokopiert und geklebt.
Die synthetische Einstellung ist der Schlüssel dieses Stils. Indem er die Zeit für Übergänge einspart, praktiziert Averty eine Ästhetik der Kollision, die Im kleinstmöglichen Zeit-Raum ein Maximum an elementaren Informationen anhäuft. Er zieht ein Zeichen langen Erklärungen vor, einen Titel oder Gag dem Diskurs eines Ansagers. Er stellt Bezüge zwischen einander fremden Szenen her, beschleunigt die Annäherungen und realisiert so das Projekt des Futuristischen Kinos: "Gleichzeitigkeiten, wechselseitige kinematogra-fl- sche Durchdringungen verschiedener Zelten und Orte. Wir werden im selben 'Augenblick- Gemälde' zwei oder drei verschiedene Visionen nebeneinander zeigen".1 Da diese simultanen Zeit-Räume autonom bleiben, kann ein Teil des Bildes sich unabhängig von anderen bewegen. So kann das außerhalb des Bildes Liegende sich im Bild befinden, eine Figur kann hinausgehen, "draußen sein", indem sie unter ein Medaillon im Zentrum des Raums gleitet. Schauspieler, Objekte Zeichen oder Szenenfragmente können plötzlich aus dem Nichts auftauchen. In solchen Räumen ist das außerhalb des Bildes Liegende überall, ebenso vor wie hinter dem Bild oder Innerhalb seiner Tiefe.
Vielfalt und Heterogenität
Noch etwas frappiert an diesem Werk: Das Wuchern der Referenzen ohne Rücksicht auf Grenzen von Genres oder Technik, die Aneignung von Bildern aller Art, vom Musical, Volksbräuchen oder Praktiken der Avantgarde, vom Kunsthandwerk und von der kleinen Sängerin aus Saint- Germain-des-Pres (Juliette Gre- co). Fernsehen ist hier nicht Vehikel anderer Künste, sondern verkehrsreicher Ort, Zeichen-Zubringer und Labor für subtile Hybride. Avertys Vorstellung von Vielfalt und Heterogenität geht über einfaches Vermischen der Genres hinaus, um raffinierter und nuancierter am Stil selbst zu arbeiten. Er "verjazzt Bilder", erfindet "Choreographismen" und spielt mit den Grenzen von Tragödie und Komik, von Schrecklichem und Entzückendem.
Die Collage Das Bild ist oft kryptisch, einem Wappen oder Rebus ähnlich zu entziffern, und hat doch weder abstrakten Charakter noch einen realistischen Aspekt. Das elektronische Bild Avertys ist gemischt aus Elementen ver schiedener Natur: Texte und gefilmte Körper, grafische Symbole und Fotos. Mittels der Collage produziert Averty den "Eindruck von Heterogenität", spielt dabei mit den vielfältigen Effekten der Osmose, der Assimilation oder Infizierung zwischen den verschiedenen Registern. Er richtet seine Anstrengungen auf das Aufeinanderprallen des Falschen mit dem Wahren. Diese minutiös ausgearbeiteten Kompositionen "kocht" Averty mit diversen Beschleunigungsund Verwirrungsprozeduren zusammen, offensichtlich mit Spaß an der Sache. So entwickelt er die Collage bis an ihre Grenzen, bis eine zermahlene "Mixtur" entsteht, die von purem elektronischen Genuß, von der Euphorie der Materie zeugt.
Mit "Les Raisins Verts" (1963-1964), die wegen ihres grafischen Einfallsreichtums ebenso wie durch ihren ätzenden Humor als Skandal wirkten, griff Averty Klischees, Tabus und den Geist der Ernsthaftigkeit an. Alle Sendungen Avertys sind im Grunde skandalös, denn sie zeigen brutal und unverschämt, um welche pure Vorstellungskraft die Mehrzahl der Fernsehzuschauer gebracht wird.
1 Manifeste de la Cinématographie Futuriste in Cinéma, théories, lectures, Revue d'Esthéthique n° spécial éd. Klinck- sieck, Paris, 1973, Seite 283