Elektronische und Videokunst. By Pierre Bongiovanni

03.03.2017

Elektronische und Videokunst. By Pierre Bongiovanni

Bilder
Die Welt der Bilder (filmische, Videobilder, holographische, infographische, virtuelle) ist von den gleichen allgemeinen Fragen betroffen, welche für die zeitgenössischen Künste und die abendländische Gesellschaft insgesamt gelten.Dennoch ist es nur ein Anfang für diese Bilder; Weniger als ein Jahrhundert Kino, weniger als fünfzig Jahre Video, weniger als ein Jahrzent virtuelle Realität... Man könnte sagen: "Die Show beginnt gerade erst!" Woher kommt also dieses diffuse Gefühl von Auflösung, Abnutzung, extremer Banalisierung der Bilder? Als ob sie sich nur jenseits aller prophetischer Visionen hätten entwickeln können, jenseits allen Bewußtseins von der Zukunft.
Dynamit Es gab einmal eine Zeit, da konnte eine Künstlerbewegung
(DADA) die dominanten Vorstellungswelten in die Luft jagen, und eine photographische Kampagne (während der US-Wirt- schaftskrise 1929) durch die Kraft ihrer Enthüllungen eine wahre Explosion in der Gesellschaft auslösen.Welche der eingeführten Künste und welche Bilder könnten heute noch derartige Wirkungen auslösen?
Haltung Eine moderne Frage ist nicht mehr: "Was und wie sprechen, zu wem und wozu?", sondern eine Haltung zu erfinden, die es uns ermöglicht, jene herauszuhören und zu sehen, die bereits heute (morgen werden es mehr sein) auf unvorhersehbare Art in völlig unmöglichen Sprachen sprechen.

Laboratorium
Der westliche Osten versuchte, ein globales Projekt zur Veränderung von Welt, Mensch, Gesellschaft und der Vorstellungswelten ins Werk zu setzen, und das Kino zur Waffe der symbolischen Erneuerung zu machen. Im Laufe einiger Jahre (und nur für wenige Jahre) legten Vertov und Eisenstein die Grundlagen einer Theorie vom Kino, die dazu bestimmt war, die Geburt des neuen Menschen zu begleiten. Ihre Arbeiten übten einen tiefgehenden Einfluß auf die Intellektuellen jener Zeit aus, waren aber kurioserweise nicht Vorbild im Bereich der Filmproduktion. Keiner der Wege und Durchbrüche wurde folgerichtig verwendet (außer durch J.L. Godard): Die Industrie machte aus der siebenten Kunst schnell einen großen Basar und schloß die Türen des Versuchslaboratoriums.

Erzählung
Das Aufkommen der Neuen Technologien (Informations technologien, numerische, infographische) verändert die gegebene Situation wenig. Im Wesentlichen beschränkt sich der Einsatz der wunderbaren technischen Möglichkeiten auf die Verbesserung von Oberflächen und auf spektakuläre Aspekte der Erzählweise, die ihrerseits fortfährt, den klassischen, von der Literatur geerbten, Regeln zu folgen. Das elektronische Bild jedoch bietet die Möglichkeit, Versuche zur Überwindung formaler Regeln der Kinoerzählung anzustellen, auch wenn es nicht zum ersten Mal geschieht.

Montage
Als Eisenstein das Konzept der "vertikalen Montage" als Theorie formulierte, wollte er damit eine Vision anschaulich machen: Die Erzählung kann sich in jeder Einstellung mit räumlicher Tiefe entfalten und ermöglicht so das Übereinanderlegen verschiedener Bewußtseinsebenen in ihrer zeitlichen Abfolge. Die damals verfügbare Technik erlaubte ihm keine großen Experimente. Heute sind sie möglich, und einige Künstler haben die Arbeit bereits da wieder aufgenommen, wo die Pioniere des Experiments aus der Frühzeit des Kinos sie unterbrochen hatten.

Anmut
Es gibt eine Kunst der Verklärung und Anmut, deren wesentlicher Inhalt das Zelebrieren virtueller Technologien ("Gesang der Maschinen") zu sein scheint. Sie macht den Hauptanteil der aktuellen Produktion aus: Elegante, entleibte, synthetische Bilder (was wird überhaupt synthetisiert?), barocke "high definition" Bilder und "motion control", der Virtuosität ihres Zaubermeisters gewidmet (Zbigniew Ryczynski), organische, aquatische und schwebende Bilder (Yoichiro Kawaguchi).
Lascaux Ein offensichtliches Paradox verweist Kino und Video auf den einzigen und gemeinsamen Phantasmus ihrer Gründung: Die Jagd nach der Verzückung, den Ängsten und den Regeln einer Gemeinschaft, um sie auf die hypothetische Wand der Welt zu projizieren, so wie der Bewohner von Lascaux seine Visionen auf die Wände seiner Grotte projizierte. Die Spitzfindigkeiten der kinematographischen Dogmenwächter haben deshalb nur im Rahmen unseres Jahrhunderts Bedeutung: Angesichts der langen Geschichte des Menschen und seines Verhältnisses zum Bild und zum Bild der Welt erscheinen sie im Licht ihrer wahren Eigenschaft: Der Lächerlichkeit.

Buchstaben
Indem sie Rolle, Platz, Status, selbst die "Mission" des Buchstabens und Wortes im Bild neu beschreiben, entwickeln die Autoren der elektronischen Verfahren fort, was Vertov mit der Montage begann, und Godard durch die Musik ("dieser verachteten Putzfrau") unterstrich, Kurioserweise hat das Kino Versuche, die "Erzählung" so zu bearbeiten, immer an den Rand gedrängt, während in der Malerei zum Beispiel Braque, Picasso und andere vom Beginn dieses Jahrhunderts an Buchstaben und Worte in den Korpus ihrer Bilder integrierten. Im Wesentlichen beschränkte sich das Kino darauf, sie der Untertitelei zuzuordnen ("Untertitel verdunkeln das Licht", Jean- Luc Godard), Parallel zur Integration alphanumerischer Zeichen in die Malerei zu Beginn des Jahrhunderts, regte Apollinaire, das Interesse an der visuellen Qualität von Texten und der "Simultaneität" des Gedichts wieder an, und gab Kalligraphie und Ideo-gramm neue Ambitionen.
Raum In der Tat gibt es zwei Bewegungen: Eine will den Autor dazu bringen, Aufteilung und Status der einzelnen Elemente beim Zusammenfügen von Bildern und Tönen neu zu überdenken, die andere versucht den formalen Rahmen des Bildschirms, des Ortes und des Augenblicks zu überschreiten, und bedient sich der Installation, des Environments, des Schauspiels, interaktiver Prozeduren, der Möglichkeiten eines Netzwerkes, interaktiver Prozesse über räumliche Entfernungen, und vereinigt so die Ansprüche an Gestik, Dauer und Raum.

Präsenz
Drei Begriffe ermöglichen es, virtuelle Räume zu charakterisieren: Inklusion als Theorie des Ereignisses, Muitisensorialität und Vieldimensionalität als Theorie der Information, Gegenwartssinn als Theorie der Erfahrung. Der Benutzer (Navigator, Entdecker, Taucher, Reisender) "arbeitet" im selben Raum und in der selben Zeit wie der vom Computer geschaffenen. In der traditionellen Anordnung Mensch-Maschine blickt der Mensch durch ein Interface zum Computer; einer wie der andere befinden sich in der selben physischen Umgebung, "sprechen" die selbe Sprache und benutzen die selben Metaphern. In virtuellen Realitäten befindet sich der Benutzer im Inneren des Computerspeichers und das Interface trennt ihn von der physischen Realität. Der Benutzer wird vom Gefühl völligen Eintauchens in Bild und Ton ergriffen und bekommt dadurch ein außergewöhnliches Gefühl von "Präsenz": Der Körper bleibt in der physikali-schen Realität eingeschlossen, während der Geist sich in die virtuelle Realität begibt.

Subjekt
All das führt zu einer Reflektion in Richtung auf eine radikale Umformung des Status der "Vorstellung von", und der Zusammensetzung eines Subjekts. Wir stehen nicht mehr vor einem Schauspiel, sondern tauchen ein in das Universum einer anderen Erfahrung. Spuren "Das Problem der Bilder ist nicht, Gegenstände zu reproduzieren, sondern den Blick des betrachtendes Subjekts wiederzugeben" (Paolo Fabri). Virtuelle Welten werfen den Entdecker auf seine eigenen Bezüge und seine eigene Subjektivität zurück. Als Subjekt sind wir immer Bestandteil des Bildes, genau wie in der Sprache, nur daß die Sprache nicht Realität ist. Selbst während der Entdeckungsreise können wir mit drei Empfindugen konfrontiert werden: Entzücken (Das Subjekt mißt sich mit den Dingen und findet sie unbedeutender als sich selbst, es sieht sie wie Spielzeuge), Erstaunen (Das Subjekt betrachtet den Gegenstand, der stärker als es selbst ist und es fasziniert), Bestürzung (Wir finden in der virtuellen Welt nicht, was wir mitbringen - es hinterläßt keine Spuren).

Wagnis
Die Wagnisse der künstlerischen Suche betreffen: - Die Erneuerung der Erzählweisen, das heißt andere Wege des Erkundens, der Konzeption und Erzählung von Geschichten zu entdecken. - Die Erneuerung der Konzeptionsprotokolle: Um interaktive Vorrichtungen zu konzipieren, muß der Künstler sich mit von der eigenen Logik verschiedenem auseinandersetzen. Selbst wenn der Künstler weiterhin dem Kunstwerk Richtung und Berechtigung verleiht, muß er jetzt seine Intuitionen mit Ingenieuren, Informatikern, Philosophen und Poeten teilen. (Tatsache ist, daß die Erfindung des Buchdrucks ein Komplott von Kopist, Bankier und Goldschmied war...) - Experimente mit neuen Beziehungen zwischen Autoren und Publikum: Durch die interaktiven Prozeduren ist es nicht mehr Rolle des Künstlers, ein abgeschlossenes Werk anzubieten, sondern einen Kontext, eine Situation, deren Erforschung den Spielern/Benutzern wirk-liche Projektionsflächen und Bedeutungsräume bietet.
Transfer Heute heißt der Schöpfer Sony und der Agitator FNAC. Dieser "Kompetenztransfer" macht den Künstler zum Ingenieur, zum Technologen, zum Kauf mann, und aus all diesem zum "Schöpfer". (Das geht so weit, daß im Abspann von elektronischen Trickfilmen der Name der Maschinen wichtiger als der des Regisseurs wird.)

WanderungEs wäre gut, wenn Künstler wieder den Weg der Wanderung und Initiation gingen, um neues Wissen, neue Fähigkeiten und neue Visionen der Welt anzufertigen. Man muß aberzugeben: Perioden der Wandlung schaffen Undurchsichtigkeit. Die von den Beobachtungsposten ausgesandten Signale werden vorübergehend verdunkelt.

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