Jede Anpassungsfähigkeit kann zu einer Anfälligkeit werden

Interview
23.03.2017

Jede Anpassungsfähigkeit kann zu einer Anfälligkeit werden

Das Projekt des CAE und von YoHa, Graveyard of Lost Species, ist ein „vorübergehendes Mahnmal“ angesichts der ökologischen Veränderungen der Themse-Mündung in die Nordsee.

Gibt es einen Umgang mit den „Grundlagen“ von Lebens- und Kunstpraktiken, der weder rückschrittlich noch zukunftsbesessen ist? Diese Frage kam in einer Paneldiskussion bei der transmediale 2005 auf. Der Künstler Steve Kurtz nahm am damaligen Panel teil und griff die Frage in seinem Keynote-Vortrag beim Festival 2017 erneut auf. Kurtz, Mitglied des schon seit Jahrzehnten bestehenden, legendären Critical Art Ensemble (CAE), musste 2005 große rechtliche Hürden überwinden, um bei der Veranstaltung „Basics“ über seine Arbeit zu sprechen. 2017 beschrieb er den Verlauf dieser Arbeit in den letzten 12 Jahren angesichts der neuen Ausformungen von Biomacht, mit denen wir es zu tun haben. Wenn Biomacht überhaupt das richtige Wort ist – so hat Elizabeth Povinelli den Begriff der „Geontomacht“ geprägt, um die Kontrolle gegenwärtiger Macht über die Grenzziehung zwischen Leben/Nichtleben anzudeuten, und nicht nur den Zugriff von Biomacht auf Leben/Tod.

 

Wenn das Leben und seine Gegenteile zunehmend ununterscheidbar werden, wo befindet sich dann Macht? Kann sie von einem körperlichen Standpunkt aus gespürt oder ihr getrotzt werden? Wie kann die Figur der Künstler_in-als-Amateur_in in Machtsysteme, die in neue technosoziale Regimes eingebettet sind, intervenieren oder sich ihnen gar nähern? In diesem Interview beschreibt Kurtz die zu diesem Zweck vom CAE angewandten Methoden. „Technologie“ ist für ihn „ein Geist, der nicht in die Flasche zurückkehren wird.“ Das langjährige Projekt des CAE war es, diesen Geist zu beschäftigen.

Elvia Wilk: Das Thema des Festivals 2005, „Basics“, wurde beim Festival 2017 in einer Reihe von Veranstaltungen zum Elementaren von Medienpraktiken (wie in der Elemental Middle Session) wieder aufgegriffen. „Basics“ sollte nach vorn schauen – die Grundlagen der nächsten Runde in den Blick nehmen anstatt zu den Wurzeln zurückzukehren. Die Frage war, was Menschen zur Gestaltung ihrer Leben in der Zukunft wirklich brauchen (Sicherheit, kulturelle Rituale, ästhetische Praxis, soziale Vermittlung, digitale Technologie). Der Fokus auf “Elementals” erscheint teilweise von dem Bedürfnis angetrieben, zurück zu blicken, solche Fragen angesichts der überfordernden Menge und Geschwindigkeit von Informationen zu reduzieren oder zu vereinfachen. Beide Motive versuchen natürlich im Wesentlichen einen Umgang mit dem Jetzt zu finden. Gibt es einen Weg zu einem Umgang mit den „Grundlagen“ von Lebens- und Kunstpraktiken, der weder rückschrittlich noch zukunftsbesessen ist?

Steve Kurtz: Ich denke, deine Frage beantwortet sich selbst. Das CAE orientiert sich immer an der Gegenwart und arbeitet mit dem, was jetzt verfügbar ist, an Problemen, die jetzt geschehen. Wir haben wenig Respekt für Zukunftsforscher_innen, weil sie unvermeidlich falsch liegen. In meiner Jugend habe ich Alvin Tofflers Future Shock gelesen und wusste, sogar in meiner Unreife, dass ein neuer Schwindel erfunden worden war – die verbale Faselei ohne Verantwortlichkeit. Sofern die Person nicht wie Jules Verne auf der Grundlage von mathematischen Modellen arbeitet, die minimale Vorannahmen erfordern, sind die Vorhersagen in aller Wahrscheinlichkeit das Papier nicht wert, auf dem sie gedruckt wurden. Wir könnten genauso gut zur Wahrsager_in gehen.

Das CAE schert sich ebenso wenig um Rückwärtsgewandte, denn Kultur hat keinen Rückwärtsgang. Technologie, die einmal hergestellt wurde, ist ein Geist, der nicht in die Flasche zurückkehren wird. Wir können neue Technologien und die damit einhergehenden Verhaltensweisen nicht wieder loswerden. Wenn es Streubomben einmal gibt, dann haben wir sie. Wir können versuchen, ihre Nutzung zu kontrollieren, aber wir werden sie nicht verhindern. Wir haben jetzt gentechnisch veränderte Organismen. Sie werden nicht wieder verschwinden, aber wie bei den Bomben können wir uns entscheiden, einen Fokus darauf zu legen, die Nutzung der Schlimmsten davon zu minimieren. Wir sollten weitmöglichst in der Gegenwart bleiben und unsere Kämpfe weise wählen.

Aufgrund des rechtlichen Verfahrens, in das du damals in den USA verwickelt warst, war es logistisch kompliziert, deine Teilnahme am Festival 2005 sicherzustellen. Die Bewegungsfreiheit trotz politischer Restriktionen zu unterstützen, ist eine wichtige Aufgabe von Kunstinstitutionen, es liegt im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Welche wichtigen Funktionen siehst du außerdem für Kulturinstitutionen, wenn kulturelle Praxis zunehmend in Gefahr ist?

Die Hauptaufgabe von Kulturinstitutionen in den kommenden Jahren wird es sein, weiterzubestehen, ohne eine weitere autoritäre Stimme zu werden. Ich glaube nicht, dass sie irgendeinen kulturellen Vorstoß anführen werden (das wäre institutioneller Selbstmord), aber mit vorsichtiger List können sie es vermeiden, die Situation schlimmer zu machen. Zwischen Sparpolitik und ideologischer Intoleranz sieht die nahe Zukunft für diverse, experimentelle und widerständige Kulturpraktiken ziemlich schlecht aus; und ich bin sicher, die Institutionen werden an der Reduzierung der Ausstellung solcher Praktiken teilnehmen müssen, wenn sie die gegenwärtige politische Tendenz überleben wollen. Hoffentlich finden subversive Arbeiten Wege, sich auf eine Weise zu verstecken, dass wohlgesonnene Institutionen sie gelegentlich zeigen und wenn nötig die eigentliche Beschaffenheit dieser Arbeiten plausibel leugnen können. In den USA ist die Science Fiction in den 1950er Jahren ein gutes Beispiel dieser Strategie.

In deiner Präsentation auf dem Panel 2005 hast du argumentiert, dass Biotechnologie zu einem neuen Mittel geworden ist, „durch das Macht den Körper bombardieren kann… Sie ist nicht länger eine Kraft von Außen; sondern eine Möglichkeit, Machtgefüge und ihre Werte direkt ins Fleisch einzuschreiben und damit eine Veranlagung zu erschaffen, die besser zu den Bedarfen des Kapitalismus passt.“ Diese Einbettung von Biomacht in den Körper hat seither zugenommen, auch durch Software (etwa die zeitlichen Rhythmen des Internets) sowie Hardware (die Einnahme gentechnisch veränderter Lebensmittel). Wenn Macht 2005 „nicht länger eine Kraft von Außen“ war, wo befindet sie sich dann heute?

Machtgefüge sind überaus widerstandsfähig, so dass Menschen eine Reihe von ihnen gleichzeitig aushalten müssen. Zum Beispiel leben wir in einer Gesellschaft der Disziplin, Kontrolle und Nachkontrolle – nur die Intensitäten verschieben sich mit der Zeit. Die Bombardierung des Körpers mit Repräsentation zum Zweck der Kontrolle und Disziplinierung wird in der vorhersehbaren Zukunft weitergehen. Mit Molekularbiologie, synthetischer Biologie und den zeitgenössischen Reproduktionstechnologien kann der Leib selbst kodiert werden – und diese Codes sollen Veranlagungen schaffen, die sich besser für den Bedarf des Kapitals hergeben. Wir werden nicht nur dadurch zu guten Arbeiter_innen, dass wir auf Aufforderung Aufgaben erfüllen und je nach Erfolg oder Scheitern belohnt oder bestraft werden. Wir können für diese sozialisierende Information auch noch empfänglicher gemacht werden. Macht kann jetzt ebenso von Innen nach Außen funktionieren wie von Außen nach Innen. 2005 wusste ich aber noch nicht, dass der Prozess der Schöpfung dieses kapitalismus-freundlicheren Körpers so langsam vonstattengehen würde. Damals dachte ich, dass die Nutzung von Reproduktionstechnologien durch Menschen, die sich fortpflanzen wollen, heute viel üblicher und normalisierter sein würde, als sie es nun ist.

In deinem Vortrag hast du die damalige Beziehung der Kunst zu den Naturwissenschaften vor allem als Ästhetisierung beschrieben, als „großen Fetisch-Haufen“. Das hat zu vielen der CAE-Projekte geführt, die du damals vorgestellt hast, wie Flesh Machine (1998) über die gewünschten Eigenschaften einer „passenden“ Eizellspender_in, Cult of the New Eve (1999–2000), ein Spott-Kult über die biblische Rhetorik der Pharmaindustrie, und Contestational Biology (2002), eine Intervention in die biotechnische Veränderung von Pflanzen. Magst du – mit diesen Projekten im Kopf – den Unterschied zwischen Ästhetisierung und Intervention erklären?

Wir müssen uns nur die biologische Kunst [BioArt] anschauen, um den Unterschied zu sehen. Meistens folgt sie modernen Standardvorgehensweisen des Kunstschaffens. Beherrsche die Materialien einer Spezialisierung und erschaffe Objekte oder Prozesse, die nach den nicht-rationalen Kriterien eines betrachtenden oder teilnehmenden Subjekts attraktiv erscheinen (und wenn die Kreation zudem als Ware fungieren kann, umso besser). Die Neuheit ist in diesem Fall, dass die Künstler_innen Materialien und Prozesse benutzen, die normalerweise mit den Naturwissenschaften in Verbindung stehen. Das CAE hat hieran kein Interesse. Dem CAE geht es vielmehr um die Entwicklung einer informierten widerständigen Biopolitik – und wir nutzen Kunst und Gestaltung als Motor, um Teilnehmer_innen/Betrachter_innen in diese Richtung zu bewegen.

Eines meiner Lieblingszitate aus deinem Vortrag 2005 ist: „Jede Anpassungsfähigkeit kann zu einer Anfälligkeit werden“. Du sprachst damals über das Intervenieren in Machtsysteme durch die Metapher der genetischen Anpassungen in Pflanzen. Welche Anpassungsfähigkeiten könnten in der heutigen politischen Landschaft zu Anfälligkeiten werden?

Wenn das CAE über die Flesh Machine oder Contestational Biology spricht, meinen wir das generell ziemlich wörtlich. (Mit Modellen der Natur gesellschaftliche oder politische Dynamiken zu beschreiben, nimmt üblicherweise keinen guten Ausgang.) Wir haben das von dir zitierte Prinzip als einen Schlachtruf für untreue Biolog_innen entwickelt. Er beschreibt eine praktische, materielle Taktik, die genutzt werden kann, um die rekombinanten, kapitalistischen „Verschmutzung-für-Profit“-Produkte zu unterwandern oder zu zerstören. Ich denke mal, wenn wir diese Taktik in einen kulturellen Kontext übersetzen würden, ergäbe das so was wie das Ausspielen der Stärke einer Person gegen die Person selbst.

Eine andere Rednerin auf dem „Basics“-Panel, Claire Pentecost, sagte zu Beginn ihres Vortrags, dass „die Geschichte der Kunst lange Zeit davon handelte, das menschliche Verhältnis zur Natur zu vermitteln“. Die Ausstellung der transmediale 2017, alien matter, befasst sich ausdrücklich mit diesem Verhältnis und damit, wie es sich (nicht) verändert hat. Wenn du zustimmst, dass Kunst historisch die Funktion hatte, menschliche Beziehungen zur Natur zu vermitteln, ist das noch immer so? Welches Vokabular könnten wir angesichts des Ausmaßes der aktuellen Zerstörung von Natur verwenden, um dieses Verhältnis zu verstehen?

Ja, diese Aussage finde ich richtig, wenn auch womöglich ein wenig überbetont. Kunst vermittelt ja alle möglichen Verhältnisse – gesellschaftliche, politische, „spirituelle“ – und tut das auch nach wie vor. Je nachdem, wie breit die Bestimmung ist, die wir Kunst verleihen möchten, können wir diese Verhältnisse und Beziehungen als marginaler oder als intensiver erachten als je zuvor. Das CAE teilt eine sehr breite Sicht auf Kunst – als die Produktion von Repräsentation. Unsere Beziehungen sind intensiver durch Repräsentation vermittelt als je zuvor.

Ich glaube nicht, dass es eine Sprache gibt, die uns dabei helfen kann, die Zerstörung wirklich zu verstehen, die derzeit stattfindet. Das Ausmaß des Problems ist so groß, dass wir es nur als eine sehr unförmige Abstraktion verstehen können. Es ist so ähnlich wie bei ökonomischer Ungleichheit – die Zahlen sind zu groß, um Bedeutung zu vermitteln, das Leiden zu umfassend. So pessimistisch das auch sein mag – ich glaube, dass nur die unvermittelte Krise wirksames Handeln anregen wird. Verstehe mich nicht falsch, ich bin kein Akzelerationist wie so viele radikale Grüne. Ich will das nicht passieren sehen, aber – um meine Überlegung in eine übervereinfachte Verallgemeinerung zu verpacken – Menschen sind reaktiv, nicht proaktiv.

Hinsichtlich künstlerischer Intervention in andere Wissensfelder sagtest du: „Nur die Amateur_in kann die Korruption ansprechen“. In den vergangenen Jahren sehe ich eine sonderbare und abträgliche Aneignung des Konzepts des „Amateurs“ in der Politik – in den USA in der Figur des Washington-Außenseiters, der den Status Quo allein dadurch „sprengen“ kann, dass er keinerlei politische Erfahrung hat. Der Unterschied ist natürlich, dass „politische Amateur_innen“ eigentlich eine versteckte politische Agenda haben, während künstlerische Amateur_innen hoffentlich keinen politischen Interessen dienen. Findest du, dass diese politische Umkehrung des Konzepts beeinflusst hat, wie Künstler_innen in Beziehung zu anderen Disziplinen sowie zu Machtsystemen funktionieren?

Für das CAE ist eine Amateur_in nicht eine Person ohne Wissen oder Erfahrung. Eine Amateur_in sollte von beidem eine Menge mitbringen – gemeinsam mit einem Interesse oder einer Leidenschaft am Thema. Diese Person ist aber keine professionalisierte Spezialist_in mit Expertise in einem sehr spezifischen Bereich der Produktion. Somit stehen Amateur_innen am Rande der politischen Ökonomie einer jeweiligen Disziplin und können daher auf andere Weise wirken. Ich würde den Begriff nicht dadurch beschmutzen, dass er mit den Betrüger_innen und Demagog_innen zusammengebracht wird, die aktuell die US-amerikanische Politik bevölkern.

Für deine gemeinsame Veranstaltung mit Johannes Paul Raether bei der transmediale 2017 hast du dich mit dem Anfang und dem Ende des Lebens beschäftigt: mit Geburt und Tod. Dein Teil der Veranstaltung hat auf die Nekropolitiken im Zusammenhang mit dem Kampf für die Umwelt fokussiert. Du hast geschrieben, dass „es keine Sprache des Todes jenseits der Kategorien der Grausamkeit und des Aussterbens gibt“ – wie sie sich in der künstlerischen Praxis meines Erachtens oft in dystopischen Fantasien niederschlägt. Könntest du über zeitgenössische Praktiken sprechen, einschließlich deiner eigenen, die sich diesem dystopischen Vokabular widersetzen? Ist der Unterschied zwischen den Ansätzen jener zwischen Optimismus und Pessimismus, oder gibt es eine andere Möglichkeit, das zu formulieren?

Ich habe hier keine guten Neuigkeiten. Für die meisten Menschen in der Welt ist die Dystopie längst da, und für den Rest gibt es eine milde Dystopie, die schlimmer wird. Die Optimist_innen (Machbarkeits- und Freimarkt-Fanatiker_innen, Posthumanist_innen etc.) sind entweder im Wahn oder sie sind irgendeinem Eigeninteresse hinterher. Mal ganz ehrlich: Ich denke, wir sind reif für ein Revival des Pessimismus. Schopenhauer ergibt täglich mehr Sinn. In den frühen 1960ern, nach einem Leben mit Hegel und Marx, kehrte Max Horkheimer zu seinem Interesse an Schopenhauer zurück. Nach den Weltkriegen, einer großen Wirtschaftsdepression, Genoziden und gescheiterten Revolutionen ist es kein Zufall, dass er nach einem Weg suchte, ein solches Massenleiden zu verstehen. Zudem müssen wir uns heute wieder mit der Nichtrationalität des Subjekts beschäftigen, und da kann wieder Schopenhauer hilfreich sein. Ich möchte meinen Pessimismus jedoch mit dem Lieblingsaphorismus des CAE von Antonio Gramsci abfedern: Pessimismus des Intellekts, Optimismus des Willens.

 Übersetzung aus dem Englischen von Jen Theodor.

 

Die Keynote "Strange Ecologies" von der transmediale 2017:

 

Das ganze Panel „Basics: Live“ von 2005, samt einer angeregten Debatte nach dem Gespräch:

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