Sutradhar Komplex. Zum Study Circle der transmediale: Affective Infrastructures

Essay
31.10.2019

Sutradhar Komplex. Zum Study Circle der transmediale: Affective Infrastructures

Wenn das Konzept der affektiven Infrastrukturen nicht auf physisch greifbare Systeme verweist, sondern auf unstrukturierte, körperlich spürbare Elemente, wie können wir solche Infrastrukturen dann verstehen, untersuchen und uns möglicherweise sogar zu eigen machen? Maya Indira Ganesh denkt über ihre Arbeit und Erfahrungen im Study Circle Affective Infrastructures der transmediale 2019 nach. Sie beschreibt, wie wichtig es ist, kollektiv die Fäden aufzunehmen, sie zu verweben und ihre verbindende – wenn auch möglicherweise flüchtige – Kraft anzuerkennen. Während sie an einige der behandelten Themen erinnert, sie verflicht und erörtert, lädt Ganesh uns dazu ein, die Fallstricke neoliberal vermarkteter „Achtsamkeit“ und die Gewalt der atmosphärischen Kontrolle zu überdenken. Zugleich unterstreicht sie das Potenzial neuer Formen der Zusammenkunft, die ein starres Verständnis von Zugehörigkeit überwinden.

Wie verbunden wir mit allen sind […]: nicht nur, weil wir dieselbe Katastrophe erfahren haben und in denselben baulichen Umgebungen leben, sondern auch, weil wir deren Teilchen zu Staub geatmet haben. Staub ist der Effekt des Kontakts zwischen Haut und Welt – und er ist das, was Gebäude auffangen und der Boden abgibt. Vor Kontakt schwirrend, verletzt und entzündlich, sind wir zusammen desorientiert geworden und haben ihn gemeinsam ausgeatmet, auch wenn uns jenes überfordert, was zu schwierig ist oder zu verkörpert.1

Sutradhar (Sanskrit: „wer die Fäden zieht“) ist eine bekannte Figur im Indischen Theater. Es handelt sich um eine Formwandler*in: Puppenspieler*in, Hochzeitsplaner*in, Kapitän*in im Cricket-Team oder Kommentator*in; sowie die womöglich vertrautere Rolle der Inspizienz im Westlichen Theater. Die Superkraft dieser Figur liegt in ihrer Fähigkeit, die vierte Wand zu durchbrechen – „eine der langlebigsten Auswirkungen des Westlichen Theaters auf das zeitgenössische Indische Theater“2 – um die Grenze zwischen Darbietung und Wirklichkeit, Publikum und Schauspieler*innen zu verwischen. Sutradhar bewegen sich flink auf der Bühne und hinter den Kulissen, sie lenken unsere Aufmerksamkeit gleichermaßen auf die Fußnoten und den Handlungsverlauf. Ihre Rolle legt nahe, dass nicht alles immer auf den ersten Blick Sinn ergibt oder perfekt zusammenhält. Die Aufgabe, die Fäden aufzunehmen und zu verweben, besteht fortwährend und ist komplex; doch auch das Spiel [des Lebens] ist ein komplexes, das heißt, es ist eine Verdichtung vieler verschiedener Dinge, die alle mit Kraft zusammenspielen.

Fäden. Komplex. Zusammenhalten. Einer der Study Circles, der sich als Teil der transmediale 2019 bildete, drehte sich um Lauren Berlants Konzept der affektiven Infrastrukturen. Unser Kreis nahm in der Arbeit mit diesem Konzept die Rolle von Sutradhar ein: Wir kommentierten, fanden Fäden, verwebten sie, mal zum Fadenspiel, mal zur Hängematte. Genauer gesagt:

„Indem wir den Begriff der Affektiven Infrastruktur verwendeten, wollten wir durchdringen, wie ‚Affekt zur Infrastruktur gemacht wird – wie er stabilisiert und kanalisiert, hergestellt und in Umlauf gebracht wird – und wie wir dazu geleitet werden, bestimmte Anbindungen anderen vorzuziehen‘. Unsere Gespräche befassten sich mit der Problematik der Fürsorge und Empathie sowie mit den in ihnen enthaltenen Formen von Macht und Privilegien. Im Vordergrund standen Potenziale zwischen Autonomie und wechselseitiger Abhängigkeit, Nicht-Souveränität und Handlungsfähigkeit, Taxonomie und Unordnung.“3

Affekt umfasst das Kognitive, die Wahrnehmung körpereigener Reize, das Verhaltensbezogene und das Psychologische. Gesichtsausdrücke, Atmung, Stimmlage, Körperhaltung – allesamt transportieren sie Affekte. Das bedeutet, dass „wir hinsichtlich unserer Energien nicht in uns geschlossen sind. Es gibt keine sichere Unterscheidung zwischen dem ‚Individuellen‘ und der ‚Umwelt‘ […]. Da Affekt (anders als Gefühle und Emotionen) nicht geformt und strukturiert ist, ist er zwischen Körpern übertragbar“.4 So lagen für den Study Circle die Ausgangspunkte der Überlegungen zu Infrastruktur und Affekt sowie zu affektiven Infrastrukturen „in der Luft“5 – flüchtig und unstrukturiert. Für unsere Veranstaltungen6 und Veröffentlichungen7 machten wir unter anderem folgende Erfahrungen: Pilzesammeln in Parks und in dem Zusammenhang auch das Entdecken vergnügungshungriger Körper; Passivität, negative Affekte und Lethargie; die Berechnung und Bewertung des Rechts auf Asyl durch Spracherkennungssysteme; verteilte und geteilte Sicherheit; #MeToo und die Verwendung von Hashtags und Tabellen dafür. Durch diese Beiträge stellten wir die Frage, was es bedeutet, mit anderen nicht nur durch Emotionen verbunden zu sein, die durch Sprache geformt und geteilt werden, sondern auch durch Begehren, das tiefer sitzt und auf Gefühlen beruht, die vorsprachlich und körperlich sind.8 Affektive Infrastruktur verweigert sich der Vorstellung von Infrastrukturen als physischen und materiellen Beziehungen. Vielleicht ähneln Infrastrukturen eher synaptischen Beziehungen, in denen Neurotransmitter Botschaften über die Lücken zwischen Neuronen und Osmose übermitteln, als der Verbindung zwischen Muskeln und Knochen durch Sehnen.

Affektive Infrastrukturen können mehrere Dimensionen gleichzeitig verkörpern. Betrachten wir zum Beispiel, wie aus unseren Gesichtern, Stimmen und Körpersprachen Futter für die wachsende Industrie der Emotion AI gewonnen wird. Emotionale Künstliche Intelligenz bezeichnet den „Prozess, Maschinen die Fähigkeit zu verleihen, menschliches Empfinden zu erkennen und darauf zu reagieren. Die Technologie kann erkennen, ob ein Kunde wütend oder traurig ist, ob eine Person am Steuer müde ist oder ein*e Patient*in sich einsam und deprimiert fühlt“.”9 Humanoide Roboter, digitale Assistenz und Chatbots werden als schwierig in der Interaktion empfunden, weil ihnen die Affekte fehlen.10 Also entwickeln Unternehmen wie Affectiva, das in diesem Bereich wegbereitend war, Datensätze menschlicher Affekte und Emotionen, um zukünftige Bots und digitale Oberflächen darin zu trainieren, „alles Menschliche [zu] verstehen“, wie ihr Slogan lautet.11Affekte werden zu Daten, die von Algorithmen geknackt und erlernt werden sollen. Sie fließen in Internet-Infrastrukturen ein und werden digital an uns zurückgeführt – als Ausdruck unserer Beziehungen zueinander wie zu uns selbst.

Nehmen wir die folgenden Beispiele. Woebot, ein Therapie-Bot in einer App, soll helfen, deine Stimmung aufzuzeichnen und spricht mit dir über die Realität eines Lebens mit Depression.12 Und Lovot – „powered by love“ – ist ein einfältiger, liebenswerter kleiner Roboter, der dich einfach nur glücklich machen will.13 Ashley Madison,14 die Webseite für Verheiratete, die heimliche Affären haben möchten, entwickelte mehr als 70.000 Bots, die sich als Frauen ausgaben und mit mindestens 11 Millionen Männern in Sex-Chats schrieben. 15 Das wurde erst aufgedeckt, als die Webseite gehackt und entsprechende Information öffentlich wurde. Solche vertraulichen Räume könnten nur dann erfüllender werden, wenn sie besser darin werden, in der Verarbeitung unserer eigenen Emotionen und Affekte durch maschinelles Lernen Affekt zu erzeugen. Die männliche Klientel von Ashley Madison war jedoch ausreichend erfüllt von den Bots, auch wenn sie „nicht besonders klug“ und „ziemlich nervig“ waren. 16

Die Diskussionen unseres Study Circles drehten sich weniger um die Fortschritte in KI-Technologien als vielmehr um den Körper – physisch und digital – in den „Beziehungsnetzen”, die wir aufzubauen begannen. Marija Bozinovska Jones stellte beispielsweise das quantifizierte Selbst (Quantified Self) vor und wie der Körper dabei in Datensätzen aufgezeichnet wird, um seine Schwankungen zu kontrollieren und seine Ordnung wiederherzustellen. In der gemeinsamen Schreibübung des Study Circles verwies sie darauf, wie der „Informationsüberfluss in überforderndem Maße“ zu einer Loslösung führt; „und dann müssen wir das Atmen neu lernen“.17 Sie brachte Beispiele ein, wie sich eine atmungsbasierte Wellness-Kultur, Selbstsorge, Yoga, Meditation, „Gong-Bäder, Motivationsgespräche, positive Bestätigung, persönliches Wachstum“ und das quantifizierte Selbst zu einer neoliberalen Reaktion auf eine psychische und gesellschaftliche Krise zusammenfügen. Miya Tokumitsu rückt diese Perspektive in ein anderes Licht, wenn sie schreibt:

„Der Neoliberalismus hat uns nicht nur eine lähmende Angst beschert, sondern auch scheinbare Abhilfe davon. Es ist kein Zufall, dass ‚Wellness‘ und ‚Selbstsorge‘ zu Mainstream-Industrien geworden sind, während wir immer nervöser werden. In den letzten Jahrzehnten sind Arbeitsplätze zunehmend unterdrückend geworden, den arbeitenden Körpern wird nachgespürt, ihnen werden längere Arbeitszeiten abverlangt, die Verhandlungsrechte der Arbeitenden werden geschwächt, während in immer größerem Rahmen Wellness- und Mentoring-Programme eingerichtet werden.“18

Es ist gut, tief durchzuatmen; aber „Achtsamkeit“ und „Selbstfürsorge“ bringen das Individuum auch dazu, sich selbst die Schuld zuzuweisen und sich auf sich selbst zu verlassen, wenn Dinge schiefgehen, anstatt sich am Arbeitsplatz zu organisieren, andere anzusprechen und sich auf sie zu verlassen. Atmen als Selbstfürsorge unter den Bedingungen des Neoliberalismus, der Prekarität und der Ungleichheit steht im Gegensatz zu der Situation des apokalyptischen Zusammenbruchs in anderen Teilen der Welt. Zum Beispiel ist heute die Luftqualität (bzw. deren Mangel) in Neu-Delhi noch schlechter als in Peking.19

Und wenn es nicht die Verschmutzung ist, dann ist es Gift: Studienkreismitglieder Lou Cornum und Tung-Hui Hu bezogen sich in der Diskussion Affective Infrastructures: A Tableau, Altar, Scene, Diorama, or Archipelago auf Situationen der institutionellen Gewalt, die Migrant*innen in den USA begegnet. Cornum schreibt am Jahresende 2018 von Tränengas, das an der Grenze „in der Luft“ liegt. Hu zufolge ermöglicht uns der Rahmen der affektiven Infrastrukturen, zu erkennen, wie Affekt – wie Tränen nach dem Tränengaseinsatz oder anderer Gewalt, Tränen der Angst, oder algorithmisch provozierte Tränen – „zur Infrastruktur wird: wie er stabilisiert und kanalisiert, hergestellt und verbreitet wird“. Anna Feigenbaums Buch Tear Gas – From the Battlefields of World War I to the Streets of Today20 (dt. etwa: Tränengas – Von den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs bis auf die die Straße von heute) zeigt auf, wie ‚atmosphärische Kontrolle‘ als Konzept es ermöglicht, die infrastrukturelle Kontrolle zu erkennen, die von Grenzen ausgeübt wird, die in allen Dimensionen bestehen – über unseren Köpfen, nicht bloß auf dem Boden. Feigenbaum zitiert auf ihrer Webseite eine Frage von Susan Saxe, die beinahe buchstäblich mit dem Konzept der affektiven Infrastrukturen im Einklang zu sein scheint: „Welche Inspiration könnte die Infrastruktur des Rankengewächses erfinden, die Revolte des Grases gegen den Zement, die Rebellion des Löwenzahns?“21 Und, um zur Berechnung der Affekte in dem Raum über unseren Köpfen zurückzukehren: Eine zukünftige Polizeitruppe könnte vom Tränengas auf Überwachungsdrohnen aufrüsten, die in der Luft schweben und Software nutzen, die auf der Grundlage von körperlichem Affekt22, insbesondere Körperhaltung und Posenerkennung Gewalthandeln vorhersagen soll.23

Der Study Circle wandte sich einer anderen Dimension von Affekt als Infrastruktur zu, indem wir uns mit Online- und Offline-Aktivismus und der #MeToo-Bewegung beschäftigten. #MeToo nahm seinen Anfang in „Affektdaten“: anonymen Listen, Tabellenkalkulationen und Hashtags, die detailliert Gewalt und Diskriminierung beschrieben. Die #MeToo-Bewegung zwingt uns, anzuerkennen, wie die Kultur der zwei Geschlechter und der Vergewaltigung ihre eigene sichtbare Materie haben – aber auch eine ignorierte Infrastruktur, die Diskriminierung und Gewalt aufrechterhält. Diese beweglichen Bottom-Up-Ansätze der Benennung von Tätern der sexualisierten Gewalt übergehen die formalen Strukturen des Gesetzes und „Rechtsstaats“ und rütteln etablierte Institutionen auf.

Rund um, hinter und am Rande der #MeToo-Aufdeckungen in den Sozialen Medien findet meist unsichtbar materielle Arbeit statt. Zum Beispiel sprachen wir über einen neuen Verband, bei dem Frauen ihre Klagen wegen sexueller Belästigung gegen ihre Vorgesetzten und Kollegen einreichen können. Frauen bilden neue affektive Infrastrukturen mit- und füreinander: um rechtlichen Rat zu erhalten; um einander dabei zu unterstützen, eine berufliche Situation zu verlassen und neue Arbeit zu finden; um Beweise für Gerichtsverfahren zu sammeln; um mit Online-Angriffen umzugehen und sie zu entschärfen. Sie organisieren sich und unterstützen einander in Messenger-Gruppen, in Twitter-Direktnachrichten, in Verhaltensregelungen, neue Untersuchungen vergangener Übergriffe sowie durch neue Taktiken, um Intimität in persönlichen und professionellen Beziehungen zu verhandeln.

Der Studienkreisteilnehmer Pedro Oliveira bezog sich auf Édouard Glissants Konzept des donner avec um ein „Netz der Beziehungen“ anzudeuten, dem ein Mensch beitreten muss, um dazuzugehören ohne anzueignen: „der Knoten, der Blickwechsel, das tiefe Atmen, das Menschen miteinander teilen, das die Notwendigkeit überwindet, Sinn ergeben zu müssen“.24 Verbindungen und Zugehörigkeit werden aus solchen subtilen und flüchtigen Dingen geschmiedet. Doch die Aufgabe, die Fäden dieser Zugehörigkeit aufzugreifen und sie zu verweben – und anzuerkennen, dass ihre Flüchtigkeit Macht hat – ist affektive Infrastruktur. Das ist besonders kompliziert, wenn die Fäden keine tatsächlichen Fäden sind, sondern wie im Theater Streifblicke, Pausen, Spannung, Präsenz. Wie lesen wir diese Teile des Spiels des Lebens, der Bewegungen und Beziehungen? Wie erhalten wir sie oder widersetzen wir uns ihnen und fordern sie heraus? Wie die Sutradhar hatte unser Study Circle die Aufgabe, diese subtilen, manchmal ungesehenen und nur gefühlten Dimensionen einer Geschichte zusammenzuweben: Was auf der Bühne passiert, entsteht und verfliegt vielleicht tatsächlich anderswo, irgendwo außerhalb des Bühnenportals – es liegt in der Luft.

Übersetzung aus dem Englischen von Jen Theodor.
Lektorat von Tabea Hamperl.

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