Everything but the Planets
Everything but the Planets
Film als Imaginäres Museum
Man kann jeden Film als imaginäres Museum im Sinne André Malraux' auffassen. Die Aufnahme konserviert den im Bild eingefangenen Moment fotografisch, in der Montage wird er kontextualisert, die Aufnahmen werden wie die Bilder eines imaginären Museums nebeneinander aufgereiht. Das berühmte Bild, auf dem Malraux vor hunderten von fotografierten Kunstwerken steht, erinnert an eine im Schneideraum angewendete Methode, bei der Ausdrucke einzelne Filmszenen repräsentieren und die Montage antizipieren. Der Filmemacher versucht mit seinem Film, was Malraux mit der Kunstgeschichte versucht hatte: Er will sich einen Überblick verschaffen. Doch nur Malraux kann die Fotografien, die um ihn herum auf dem Boden liegen, alle auf einmal betrachten. Im Buch sind sie bereits in ein Narrativ – malrauxscher, französischer und europäischer Prägung – gepresst. Auch der Filmemacher sieht allein die ganzen Aufnahmen eines Films und entscheidet auch allein über ihre Kontextualisierung.
Mit Audioguides versuchen Museen ihren eigentlich frei zugänglichen Räumen ein ähnliches Narrativ zu geben. Bei Neubauten wird der Weg des Betrachters inzwischen gleich mit eingeplant, was der Dramatisierung der Sammlung (von Höhepunkt zu Höhepunkt) und der möglichst zügigen Abwicklung der Massen dient. Malraux ist für sein Narrativ viel kritisiert worden. Das gleiche Unbehagen schlägt dem Film entgegen. Die Freiheit des Filmemachers, eine Aufnahme aus einer Demonstration gegen Bilder aus einem Schlachthaus zu schneiden – oder einen Mond mit Wolke gegen ein Auge mit Rasiermesser – hat etwas Suggestives, ja Gewalttätiges, denn der Betrachter kann sich der Situation ja nur schwer entziehen. Das Mainstream-Kino löst dieses Problem, indem es sich an relativ standardisierte, in den 1930er Jahren entwickelte Erzählmethoden hält. So weiß der Betrachter je nach Genre ungefähr, was ihn erwartet. Experimentalfilm und Videokunst halten sich nicht an diese Konventionen und sind bis heute im Kino schwer vermittelbar.
Die museale und die filmische Praxis der Kontextualisierung wiederholt sich noch einmal im kuratorischen Prozess, in dem (kurze) Filme in eine festgelegte Programmfolge einbettet werden, und damit zwischen den singulären Werken Bedeutungszusammenhänge erzwingt, die dem einzelnen Film an sich völlig fremd sein mögen. Im Gegensatz zur filmischen Montage ist der kuratorische Prozess normalerweise einmalig, die Programme werden so nie wieder aufgeführt. Diese Vorstellung von Film, Programm und Festival als imaginäres Museum und von der Komprimierung und Kontextualisierung ganzer Welten ist das Metanarrativ des Filmprogramms der transmediale 2013.
Der Begriff „Everything“ im Titel des Filmprogramms verweist auf eine weitere Eigenschaft, die das imaginäre Museum und der Film teilen: Beide können fast unbegrenzte Mengen an Information vermitteln. Die 49 Filme des Programms haben insgesamt eine Laufzeit von 719 Minuten, das sind geschätzt über 4.000 Einstellungen und über eine Million Einzelkader. Jede Einstellung eines Films, im Extremfall jeder Kader, kann eine völlig andere Welt darstellen.
Die Auswahl der insgesamt 49 Filme basiert auf Einreichungen aktueller Werke im Rahmen des Call for Works der transmediale sowie auf Recherchen in Archiven und Sammlungen. Das Verhältnis älterer und aktueller Arbeiten ist etwa ausgeglichen. Darüber hinaus werden die retrospektiven und zeitgenössischen Aspekte wie vergangenes Jahr gemeinsam präsentiert. Dabei verfolgt jedes Programm ein eigenes Subthema, das meist auf Schwerpunkte in den eingereichten aktuellen Werken reagiert. Dabei entstehen eigenwillige Querverbindungen, etwa in der Behandlung religiöser Überlieferung in der zeitgenössischen Kunst, die das Programm Tales of the Unknown bestimmt, aber auch in den Programmen Talking to the Exterior World, Toute la mémoire du monde und Malraux's Screening wieder auftaucht.
Die Rekontextualisierung von filmischen Fremdbildern ist das zentrale Moment in der Eröffnungsinstallation The Zone und zieht sich als roter Faden durch das gesamte Programm, vom ersten Found-Footage-Film der Filmgeschichte, Crossing the Great Sagrada, bis hin zum Remix von Internetvideos im Web-Video-Programm Videodrones. In Remade Reproductions werden dagegen nicht fremde Sequenzen, sondern ganze künstlerische Werke „reloaded“. Die Einordnung der Welt in vermittelbare Kategorien beginnt beim Sortieren mehr oder weniger nützlicher Dinge in dem Programm Too Many Things bis hin zur manuellen und algorithmischen Erfassung des Menschen in The Economy, Stupid!
Bei den aktuellen Arbeiten ist bemerkenswert, dass die jahrelange Dominanz des Dokumentarischen im künstlerischen Bewegtbild neuen, fast schon fantastischen Formen des Erzählens zu weichen scheint, die das filmische Medium an die Grenzen seiner Möglichkeiten führen.
Marcel Schwierin